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RR Montag, 1. Dezember 2025 von RR

DJG: Warum PEBB§Y die wahre Belastung im Servicebereich nicht abbildet

Wenn Überstunden unsichtbar bleiben

Die PEBB§Y-Vollerhebung 2027 soll die Arbeitswirklichkeit in der Justiz abbilden. Doch ein entscheidender Faktor bleibt systematisch ausgeblendet: die freiwilligen Überstunden. Im Servicebereich kompensieren sie seit Jahren strukturelle Unterbesetzung, technische Defizite und digitale Wartezeiten. Diese Stellungnahme zeigt, warum das Ministerium für Justiz und Migration Baden-Württemberg (Ministerium) diese Realität ignoriert – und welche Folgen das hat.

Ein System ohne Menschenbild: Warum PEBB§Y Überstunden ausblendet

PEBB§Y ist – seinem Grundgedanken nach – ein Personalbedarfsberechnungssystem. Es misst die Bearbeitungszeiten einzelner standardisierter Tätigkeiten und erstellt daraus ein rechnerisches Soll für die Personalplanung. Der Anspruch klingt objektiv und methodisch sauber. Doch genau hier beginnt das Grundproblem: PEBB§Y erfasst ausschließlich den technischen Ablauf eines Vorgangs, nicht die menschliche Realität dahinter. Das System interessiert sich nicht für Gefühle, Müdigkeit, chronische Belastung, psychische Überforderung oder Arbeitsverdichtung. Und es interessiert sich erst recht nicht dafür, dass Beschäftigte regelmäßig länger bleiben, um Rückstände aufzuholen oder den Bürgerinnen und Bürgern einen funktionierenden Betrieb zu ermöglichen. Überstunden sind im Verständnis des Systems Störfaktoren, weil sie vermeintlich den „Normalzustand“ verzerren würden. Deshalb werden sie gar nicht erst einbezogen.

Für die politisch Verantwortlichen bietet das einen großen Vorteil: Sie können sich hinter Zahlen verstecken, die objektiv wirken, aber nichts mit dem Arbeitsalltag zu tun haben. Wenn PEBB§Y sagt, eine bestimmte Tätigkeit dauere im Durchschnitt zehn Minuten, dann gilt dieser Wert – selbst wenn er nur deshalb eingehalten wird, weil Beschäftigte den Rest des Tages deutlich länger arbeiten, um den Arbeitsdruck zu kompensieren. Die Formel sagt: „Alles machbar.“ Die Realität sagt: „Nur machbar, weil wir über unsere Grenzen gehen.“

Es ist ein strukturell blindes System. Es blendet das aus, was den Servicebereich am stärksten prägt: Selbstausbeutung, Verantwortungsbewusstsein, Loyalität und der moralische Anspruch, dass Akten nicht liegen bleiben dürfen. Diese menschliche Leistung ist unsichtbar – und damit politisch folgenlos.

Noch problematischer: Das Ministerium betrachtet Überstunden als „individuelles Verhalten“. Also als persönliche Entscheidung, nicht als Hinweis auf strukturellen Mangel. Damit schiebt man die Verantwortung den Beschäftigten zu. PEBB§Y liefert die Zahlen, die man hören möchte. Die Überstunden verschwinden in der Grauzone, wo sie offiziell nicht existieren – obwohl die Justiz ohne sie längst zum Stillstand gekommen wäre.

Die stille Selbstausbeutung: Warum freiwillige Mehrarbeit den tatsächlichen Personalbedarf verschleiert

Überstunden sind im Servicebereich längst kein Ausnahmefall mehr, sondern ein permanenter Bestandteil des Betriebes. Viele Mitarbeitende bleiben freiwillig länger, weil sie ihre Arbeit ernst nehmen, weil sie Kolleginnen und Kollegen nicht hängen lassen wollen oder weil sie die Bürger nicht für den Personalmangel bestrafen möchten. Gerade in der Justiz gilt: Man lässt keine Fristen verstreichen. Man lässt keine Haftsache liegen. Man verschiebt keine dringenden Vorgänge. Das moralische Pflichtgefühl kompensiert systemisches Versagen. Doch genau diese Pflichtbereitschaft führt zu einer gefährlichen Entwicklung: Je mehr der Servicebereich freiwillig kompensiert, desto weniger sieht das Ministerium die Notwendigkeit struktureller Maßnahmen. Die Arbeit ist ja – nach Aktenlage – erledigt. Rückstände werden privat bereinigt. Fehlende Stellen werden durch persönliche Opfer aufgefangen. Das System wirkt stabil, obwohl es auf dem Rücken der Beschäftigten zusammengehalten wird. PEBB§Y macht diesen Effekt noch stärker. Da das System nur den Zeitaufwand für den Vorgang selbst misst, erscheint jede Dienststelle, die viele Überstunden leistet, auf dem Papier extrem leistungsfähig. Die Kennzahl lautet dann: „Kurze Bearbeitungszeiten, ausreichende Kapazität.“ Keine Statistik zeigt, dass dafür unzählige unbezahlte Stunden angefallen sind. Das Ministerium interpretiert das als Erfolg – weil es gar nicht anders kann. Die Erhebung bietet keinen Mechanismus, Mehrarbeit zu erfassen oder als Belastungsindikator einzuordnen. Im Gegenteil: Dienststellen mit hoher Überstundenleistung liefern die schönsten Zahlen. Dienststellen, die auf die Einhaltung der Arbeitszeit achten, wirken „ineffizient“, weil sie Rückstände sichtbar lassen, die andere durch Selbstausbeutung beseitigen. So entsteht ein toxischer Wettbewerb: Wer seine gesetzliche Arbeitszeit respektiert, verliert. Wer sie ignoriert, hält das System „leistungsfähig“. Und PEBB§Y sorgt dafür, dass diese Verzerrung in Stein gemeißelt wird. Die Deutsche Justiz-Gewerkschaft Landesverband Baden-Württemberg e. V. (DJG-BW) kann seit Jahren zeigen, dass der reale Personalbedarf deutlich höher ist – aber das Messinstrument ignoriert die eigentliche Grundlage: den Faktor Mensch.

Die digitale Realität: Warum Wartezeiten, IT-Probleme und fehlerhafte Systeme die Erhebung unbrauchbar verzerren

Ein weiterer Grund, warum Überstunden entstehen und warum PEBB§Y dennoch falsche Werte liefert, liegt in der technischen Situation des Servicebereichs. Die moderne Justiz ist weit entfernt von einem optimierten, störungsfreien digitalen Arbeitsumfeld. Der Alltag besteht aus:

  • Wartezeiten beim Laden von eAkten,

  • Scannerfehlern und Gerätestörungen,

  • instabilen Netzwerkanbindungen,

  • Serverausfällen,

  • wiederholten Systemabstürzen,

  • Ladezeiten beim Wechsel zwischen Fachanwendungen,

  • Verzögerungen beim Speichern oder Hochladen von Dokumenten,

  • Kompatibilitätsproblemen zwischen Programmen.

Doch diese Wartezeiten fließen in der Erhebung oft nicht realistisch ein. Sie werden als technisches Problem betrachtet – nicht als Teil der Arbeitszeit. In vielen Dienststellen wird an die Mitarbeitenden kommuniziert, man solle „die Störung kurz aussitzen“. Doch während der Beschäftigte wartet, zählt PEBB§Y keine Minute. Der reale Zeitverlust bleibt unsichtbar, obwohl er die tägliche Arbeit massiv ausbremst und den Bedarf eigentlich erhöhen müsste.

Noch schlimmer:
Wenn während einer Erhebungsphase Systeme instabil sind, kann die Datenqualität völlig verzerrt sein. Beschäftigte unterbrechen die Erfassung, weil sie mit Fehlern kämpfen. Vorgänge dauern länger, aber die Erhebung zählt nur den idealisierten Zustand.

Die Folge:
Ein Verfahren, das in der Realität 15 Minuten dauert, wird als 7-Minuten-Vorgang erfasst – weil nur die „reine Bearbeitungszeit“ zählt, nicht die Zeit, die nötig ist, um die Technik zur Mitarbeit zu bewegen.

Das Ministerium sieht diese Probleme nicht, weil sie nie in den Zahlen erscheinen. PEBB§Y liefert ein Schönwetterbild einer digitalen Justiz, das es in Baden-Württemberg so nicht gibt.

Die eigentliche Wahrheit lautet:
Der Servicebereich arbeitet digital langsamer, nicht schneller. Doch die politischen Entscheidungsgrundlagen tun so, als sei die Digitalisierung ein Effizienzbooster. Dadurch entsteht eine doppelte Fehlinterpretation: Überstunden kompensieren technische Mängel, und die Erhebung blendet beides aus.

Politische Blindheit

Warum ignoriert das Ministerium freiwillige Überstunden? Die Antwort ist ernüchternd, aber klar: Weil die Anerkennung dieser Tatsache ein strukturelles Problem offenbaren würde, das politisch nicht bewältigt wird. Wenn das Ministerium offen eingestehen würde, dass die Justiz auf unbezahlten Mehrstunden basiert, müsste es:

  • schlagartig mehr Personal einstellen,

  • deutlich höhere Haushaltstitel einfordern,

  • organisatorische und digitale Strukturen verbessern,

  • eine ehrliche Bedarfsanalyse veröffentlichen,

  • und eingestehen, dass die vergangene Personalpolitik nicht ausreichend war.

Dieser Schritt wäre politisch unbequem. Deshalb wird der Fokus lieber auf technische Durchschnittswerte gelegt, die nichts mit der belasteten Praxis zu tun haben. Freiwillige Überstunden gelten offiziell als „persönliche Entscheidung“. Damit können sie als nicht systemrelevant abgetan werden. Es ist eine bequeme Arbeitsverweigerung gegenüber der Realität.

Doch es ist auch ein gefährliches Spiel:
Eine Arbeitskultur, die sich jahrzehntelang auf Selbstausbeutung stützt, bricht irgendwann zusammen. Die steigende Zahl von Krankheitsfällen, Überforderungsrückmeldungen und Kündigungen zeigt das deutlich. Das Ministerium weiß das – aber solange PEBB§Y kein anderes Bild liefert, bleibt der politische Druck gering. Deshalb ist es Aufgabe der DJG-BW, diese Lücke zu benennen und deutlich zu machen: Ein System, das Mehrarbeit ignoriert, ist nicht neutral – es ist strukturell blind und moralisch defizitär.

Fazit

Die PEBB§Y-Erhebung 2027 wird nur dann eine realistische Grundlage für Personalentscheidungen liefern, wenn sie anerkennt, dass der Servicebereich die Justiz tagtäglich durch unbezahlte, freiwillige Mehrarbeit rettet. Wird dies weiterhin ignoriert, entsteht ein künstliches Bild, das den realen Bedarf kleinrechnet und die Überlastung verewigt. Die DJG-BW fordert deshalb eine Erhebungsmethodik, die:

  • Überstunden als Belastungsindikator berücksichtigt,

  • Wartezeiten und digitale Störungen einbezieht,

  • den Faktor Mensch sichtbar macht,

  • und politisch ehrlich mit strukturellem Personalmangel umgeht.

Denn nur ein System, das die Realität abbildet, kann sie auch verbessern.

Reinhard Ringwald
Landesehrenvorsitzender DJG-BW

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